Erscheinungsdatum: 04.05.2013
Quelle: www.dtj-online.de
Besonnenheit ist das Gebot der Stunde
Je mehr Extremisten und Gewalttäter die Proteste in der Türkei dominieren, umso mehr wendet sich die Bevölkerung von diesen wieder ab. Wirtschaftlich können sie aber immer noch massiven Schaden anrichten. Mehr Nüchternheit tut Not.
Schritt für Schritt waren die Proteste immer näher gekommen. Ähnlich wie bei einem Horrorfilm, wurde die Spannung mit jeder Sekunde immer größer.
Würde man bereits im Vorfeld Maßnahmen ergreifen und eine Prognose erstellen, würde es zu den schmerzlichen Ereignissen, welche sich in der letzten Woche ereignet haben, vielleicht gar nicht kommen. Nun aber spricht jeder über das, was er aus seinem eigenen Fenster beobachten kann. Und jeder dürfte eine andere Lehre daraus ziehen. Aus diesem Grund ist es Pflicht, das Problem unter jedem möglichen Aspekt zu betrachten. Zunächst einmal eine kurze Zusammenfassung der Ereigniskette:
Der Bau der Artilleriekaserne wurde schon von Beginn an heftig diskutiert. Doch leider war man sich darüber nicht genau bewusst, was da gebaut werden soll. Das Fällen der Bäume im Gezi-Park hat das Thema zu einem noch komplexeren Problem werden lassen.
Die Abrissarbeiten, welche in der Nacht des 27. Mai ab 22.00 Uhr begonnen hatten, waren der erste Schritt, doch wurde diese Entwicklung in der breiteren Bevölkerung gar nicht weiter wahrgenommen. Als es dann um die Bäume ging, sind viele Menschen jedoch in Beklommenheit geraten. Da der neue Taksim-Plan nicht genau bekannt war, hat der Eingriff mit den Bulldozern sehr viele Menschen überrascht und tief gekränkt.
Der Anstieg der Menschenmenge, welche sich am 28. Mai für den Erhalt des Parks zusammengefunden hat, sollte eigentlich die Verantwortlichen auf die Vorbehalte innerhalb der Bevölkerung aufmerksam machen, doch nichts ist passiert. Um 05.00 Uhr morgens am 29.Mai hat die Polizei gegen diejenigen, die in Zelten Wache hielten, interveniert und die Maschinen haben einen Teil jener Gebäudewand, welche zur Diskussion geführt hatte, zerstört. Wachzelte wurden in Brand gesetzt. Auch am 30. Mai um 05.00 Uhr gab es eine Intervention seitens der Polizei. Die Maschinen haben den Rest der noch übriggebliebenen Wand zerstört. Die Zelte wurden von Menschen in Zivilkleidung und in Besitz von Walkie-Talkies in Brand gesetzt. Und dann kam der 31.Mai – die Aktivisten wurden nicht weniger, sondern mehr und ihre Wut hat nicht nachgelassen, sondern war weiter angestiegen. Die Polizei kam wieder in Einsatz. Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse und am Ende ein schrecklicher Anblick!
Aber welche Akteure spielen nun welche Rolle?
1. Politische Führung: In unserem Land wird bei vielen Vorhaben, welche das Volk direkt angehen, auf die Meinung der Bürger nicht viel Wert gelegt. Das war immer schon so und ist keine auf die AKP beschränkte Entwicklung. Selbst wenn sehr vernünftige Entscheidungen getroffen werden, fühlen sich die Menschen manchmal ausgeschlossen. Vor allem im städtischen Umfeld ist dieses Problem sehr stark ausgeprägt. Vielerorts ist es leider so. Sogar in so einem kleinen Bezirk wie Yenibosna beispielsweise. Kann man in einem Park, wo die Menschen mit ihren Familien hingehen, einfach aus heiterem Himmel ein Parkhaus errichten? Ja, doch, es wird gemacht. Als das Volk sagte: „Wir wollen nicht, dass man diese Bäume fällt und unseren Park vernichtet“, machten die Autoritäten im Stadtbezirk Bahçelievler eine klare Ansage, in der es hieß: „Dem Park wird nichts passieren. Wir werden nur darunter ein Parkhaus errichten, darüber einen Bezirksmarkt und eine Tierschlachtungsanlage.“ Die Menschen wurden wütend und traurig, da es unmöglich ist, eine Markthalle und Schlachtungsanlage zu bauen und gleichzeitig den Bäumen nicht zu schaden. Wenn aber in einem kleinen Bezirk wie Bahçelievler so etwas geschieht, ist dann nicht davon auszugehen, dass an größeren Orten so etwas noch viel öfter passiert? Man sollte sich seitens der Verwaltung um solche Angelegenheiten unter Beachtung der Meinung der Bevölkerung und ihrer Überzeugungen kümmern, sodass übel gesinnten Personen und Organisationen gar keine Chance gegeben wird…
2. Sicherheitskräfte: Gerade in großen Ballungsräumen wie Istanbul lastet auf den Sicherheitskräften eine sehr große Verantwortung. Auf der einen Seite müssen sie versuchen, Aufruhr einzudämmen, auf der anderen Seite dürfen sie keine unverhältnismäßige Gewalt anwenden. In einem Land, in dem brutale faschistische und terroristische Organisationen immer wieder versuchen, Chaos zu stiften, ist es natürlich nicht so leicht, die Ruhe immer aufrechtzuerhalten. Doch in Städten, in denen Massendemonstrationen nicht unüblich sind, muss aus jedem Ereignis eine Lehre gezogen werden und auf Erfahrungen zurückgegriffen werden. Selbstverständlich kann der Vandale, der alles in Brand gesetzt hat, nicht ungehindert weitermachen. Die Sicherheitskräfte müssen jedoch die Folgen des Einsatzes von Gewalt – in der Art und Weise, wie es im Sinne der Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlich ist – gut berechnen können. Die Zuständigen für Sicherheit und Ordnung dürfen der Provokation nicht nachgeben und müssen ihre Eingriffe noch intelligenter planen, damit ein Chaos verhindert werden kann…
3. Extreme Organisationen: In diesem Land gibt es Organisationen, welche jede Chance wahrnehmen, um Angst, Schrecken und Gewalt zu verbreiten. Sie versuchen selbst völlig unverfängliche Anliegen zu infiltrieren und in eine extreme Richtung zu ziehen. In ihren Kreisen hat sich eine geradezu pathologisch anmutende AKP-Feindlichkeit, bei einem Teil sogar eine Islam-Feindlichkeit ausgebreitet. Sie nutzen jede Chance zur Provokation. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Gruppen – die von Fußballspielen bis zu politischen Aktionen überall auftreten – Seite an Seite mit tiefen Strukturen wie „Ergenekon“ agieren und deren Rückendeckung haben. Zwar hat dieses Konglomerat mit Taksim und mit dem Gezi-Park nichts zu tun. Die dort agierenden Gruppierungen sollten sich jedoch der Tatsache bewusst sein, dass es ihren eigenen berechtigten Anliegen schaden wird, wenn sie sich von Extremisten unterwandern lassen. Und diese haben erfahrene und zum Teil noch aus dem Ergenekon-Dunstkreis stammende Lenker hinter sich.
4. Die Bürger: In allen Angelegenheiten suchen unsere Bürger die Gerechtigkeit und verlangen Fairness. Diese Erwartung ist ihr natürliches Recht. Sie sind nicht damit einverstanden, dass die Regierung von oben auf sie herabsieht. Wenn jedoch Kräfte dominant werden, die den Protest gegen die Regierung in Gewalt und Aufruhr umwandeln, wird innerhalb der Bevölkerung die Unterstützung rapide abfallen. Die Linke konnte diese Wahrheit nicht erkennen, sie erkennt sie immer noch nicht. Die Linke geht davon aus, dass, wenn sie über die Straßen herrscht, sie auch das Denken der Bevölkerung beherrschen werde.
Nicht jeder Regierungskritiker trägt die linke Agenda mit
Durch das Herstellen eines ‚trending topics‘ auf Twitter denkt sie, dass sie das Gewissen der Bevölkerung in ihre Richtung leiten könnte. Wobei die Situation ganz anders aussieht. Menschen, denen die Haltung der Regierung nicht gefällt; die wegen der Situation im Stadtbezirk aufgebracht sind; sich über die Polizei ärgern usw., sind in ein ganz anderes Gefühlschaos geraten, als sie die auf von ganz links und ganz rechts mit ungemeiner Brutalität angreifenden Aktivisten gesehen haben. Sobald die friedlichen Grenzen der demokratischen Reaktion überschritten werden, wendet sich der Bürger in eine ganz andere Richtung. Er goutiert keine übermäßige Gewaltanwendung seitens der Polizei – aber eben auch keine solche vonseiten politischer Aktivisten.
Mein letztes Wort zur Sache: Ich hoffe, dass die Ereignisse der letzten Woche für jeden eine Lehre sein werden. Jeder der dieses Land aufrichtig liebt, ist von den Bildern aus Istanbul schwer verstört. Es ist auch ein Unding, jetzt die Destabilisierung des Landes zu riskieren. Genau zu jenem Zeitpunkt, da die Türkei sich entwickelt, auf die Beine kommt und in der Welt ihren Platz einzunehmen, kann es sich das Land nicht leisten, in neue Unruhen zu geraten. Für solche Polarisierungen haben wir lange genug unsere Zeit verschwendet. Den gleichen Schmerz müssen wir nicht noch einmal erleiden. Wir bitten um Besonnenheit…